H., so will ich ihn hier nennen, wollte nicht, dass sein Tod bekannt wird. Er wird seine Gründe gehabt haben. Darüber zu urteilen steht mir nicht zu. Wer ihn gekannt hat und ihn heute zusammen mit uns auf seiner letzten Ausfahrt begleitet hat, wird wissen, über wen ich schreibe.
Im November letzten Jahres war er zuletzt bei uns an Bord, nur kurz, so wie immer, nur ein paar Worte reden, dann schnell weiter, bloß nicht bleiben – keinem zur Last fallen? Dass er schwer krank gewesen war und dass er im Jahr zuvor dem Tod noch einmal entronnen war, das wussten wir, aber nicht von ihm. Nun ging es ihm wieder besser, er fühlte sich stärker und plante schon für das kommende Jahr. Mir fiel es schwer, das zu glauben, aber gesagt habe ich nichts. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.
Er erschien mir weicher bei seinem letzten Besuch, sentimentaler, nicht mehr so kantig. Plötzlich erzählte er, dass er in der Nähe von Brest geboren sei, sein Vater in französischer Kriegsgefangenschaft war, er eine doppelte Staatsbürgerschaft habe. Er träumte davon, noch einmal dorthin zu reisen. Jahrelang hatte er sich nicht getraut, er hatte Angst für den französischen Staat in den Krieg ziehen zu müssen.
Dann meldete er sich noch einmal, als sein Schiff aus dem Wasser kam. Es kam in die Halle ins Winterlager und steht dort noch immer direkt neben unserer Lorrikeet. Es ärgerte ihn, dass die Schiffe wieder viel zu dicht nebeneinander stehen. Ich war trotzdem beruhigt, dass er und Klaus sich verabreden wollten, um gleichzeitig in der Halle zu arbeiten und die Schiffe fertig zu machen für die Saison. Es war auch so ein wenig Vereinskameradschaft, denn wir sind noch immer im selben Segelverein an der Elbe, obwohl wir doch schon so lange auf der Ostsee segeln.
Dort haben wir uns kennengelernt, irgendwann Ende der 80er oder Anfang der 90er Jahre – so genau wissen wir es nicht mehr. Es war auf einer Vereinsfahrt im Frühjahr. Er war bei Freunden an Bord, wir lagen in Glückstadt nebeneinander. Wir hatten eine Gitarre an Bord und auf dem anderen Schiff gab es Maiurbock. Daraus wurde ein lustiger Abend mit schweren Folgen am nächsten Tag. Ich hatte glücklicherweise nichts davon getrunken und so musste ich meine kranke Mannschaft allein nach Hause segeln…
An dem Wochenende hat H. wohl der Segelvirus ereilt. Er kaufte sich einen kleinen Jollenkreuzer ohne irgendwelche Segelkenntnisse zu haben. Bei der ersten Ausfahrt musste ich das Boot segeln. Er hat fotografiert, seine Frau saß unter Deck und lernte für eine Prüfung. Auf sie war der Virus nicht übergesprungen. Das Schiff war ihm schnell zu klein, er verkaufte es, wie so viele Boote danach, zu einem guten Preis und kaufte ein größeres Boot.
Irgendwann war ein Vierteltonner dabei – ideal als Regattaschiff geeignet. Wir meldeten uns zum Blauen Band der Niederelbe an und segelten zu viert. Klaus, Bernd B., H. und ich. Er hatte vorher das Schiff ausgepackt, damit kein Gramm zu viel an Bord war, sorgte für die Verpflegung und dann ging es los: Bernd als Steuermann, Klaus als Vorschoter, ich als Ausguck und H. als Smutje der um sein Schiff zitterte. Als eine der wenigen Crews waren wir auch auf der Rückregatta, der Elbaufregatta, pünktlich am Start – von Maiurbock waren wir kuriert.
Ein paar Jahre später wechselten wir mit unserem Boot an die Ostsee und verloren den Kontakt zu ihm und seinen Freunden. Eines Morgens stand ich frühmorgens an der Kaimauer – wir wollten Joggen gehen – und wartete auf Klaus. Unter dem Kran lag ein Schiff. Den Namen konnte ich von oben lesen. Es hieß, wie seine Schiffe immer hießen. Das konnte nur eins bedeuten und so war es auch. Er lag mit seinem Schiff schon ein paar Jahre im Nachbarhafen und hatte seine neue Liebe in Schwerin gefunden. Von seiner Frau war er geschieden. Kurz danach hatte er einen Liegeplatz in unserem Hafen gefunden und so waren wir wieder vereint.
Er träumte davon, sein Unternehmen an seinen Sohn zu übergeben und in Rente zu gehen. Das dauerte noch ein wenig und lief nicht so reibungslos ab, wie er sich das vorgestellt hatte. Als es soweit war, zog er auf sein Schiff, löste im Mai die Leinen, segelte gen Osten und kam erst im September zurück. Auch sonst löste er in der Zeit einige Leinen. Krank war er da schon gewesen. Wie viel Zeit ihm bleiben würde, wusste er nicht. Aber dass er sie nutzen würde, das wusste er ganz sicher.
Dass er eine Seebestattung wollte, passte zu ihm. Dass wir dafür noch ein Stück weiter nach Osten fahren mussten, passte auch. So sind wir dann heute eine halbe Stunde früher als ursprünglich geplant noch einmal zusammen abgelegt, gerade noch rechtzeitig vor dem heraufziehenden schweren Sturm. Er wollte gern vor Hiddensee bestattet werden. Dort liegt nun seine Asche. Unsere Blumen hat der Sturm sicherlich schon an Land getrieben. Wir werden uns den Wegepunkt noch in unser GPS eintragen, so können wir ihn besuchen, wenn wir das nächste Mal nach Stralsund segeln: 54°22,142‘ N, 13°6,060‘E
Die Fotos in diesem Beitrag stammen aus dem Ozeaneum, das wir im Anschluss besucht haben. Draußen heult nun ein schwerer Sturm.